2.2.1 Prüfprinzipien
Bauteilversuche (Bild 3, Kategorie I-III)
Untersuchungen an Realteilen in Preßwerken bieten die höchste
Übertragbarkeit der Ergebnisse. Das Umformergebnis läßt
sich anhand von Ausschußquote, Ausmaß der Faltenbildung oder
Häufigkeit und Größe von Reißern oder Einschnürungen
beurteilen. Die Ergebnisse von Pfestorf [87, 88] zeigen, daß es mit
dieser Methode möglich ist, die mit unterschiedlichen Blech-Topografien
erzielten Umformergebnisse zu vergleichen.
Der Aufwand zur Durchführung dieser Versuche ist im allgemeinen
wesentlich höher als bei vereinfachten Modellversuchen. Die laufende
Serienproduktion sollte nicht beeinträchtigt werden.
Näpfe und Modellteile (Bild 3, Kategorie IV)
Vereinfachte Bauteile wie rechteckige oder rotationssymmetrische Näpfe
bieten praxisnahe tribologische Untersuchungen im Labormaßstab [85].
Je nach Werkzeuggeometrie können höhere Tief- oder Streckziehanteile
erreicht werden. Als Maß für die Güte des tribologischen
Systems dient in den meisten Fällen die Ziehtiefe des Bauteils bei
Reißerbeginn [89, 90]. Aussagekräftigere Ergebnisse bei größerem
Versuchsaufwand bietet die Erstellung eines Arbeitsdiagramms, bei dem die
Falten- und Reißergrenzen in Abhängigkeit von Niederhalterkraft
und Blechgeometrie ermittelt werden [82, 90].
Wegen der vereinfachten Geometrie lassen sich verschiedene Ansätze
zur Abschätzung von Umformkräften, Dehnungen und Werkzeugbeanspruchungen
anwenden [66]. Die Werkzeuge kann man mit entsprechender Meßtechnik
versehen, ohne die Serienproduktion zu beeinträchtigen.
Grahnert hat in seinen Untersuchungen an einem rotationssymmetrischen
Napf mit Drucksensoren im Werkzeug die Entstehung von sogenannten Makroschmiertaschen
nachgewiesen [91]. Während des Ziehvorgangs dickt die Ronde am Rand
infolge der tangentialen Druckspannungen auf und behindert das Entweichen
des Schmierstoffs aus dem Raum zwischen Rondenrand und Matrizenrundung.
Zu stark abstrahierte Modellversuche können diese Effekte nicht abbilden.
Ob in einem realen Bauteil Makroschmiertaschen entstehen, hängt von
der Werkzeuggeometrie ab. Untersuchungen an einem rechteckigen Napf zeigen,
daß in den Ecken des Bauteils das Blech nicht am äußeren
Rand des Flansches, sondern innen aufdickt [91]. In diesem Fall können
keine Makroschmiertaschen entstehen.
Ausschnitte aus Werkzeugen (Bild 3, Kategorie V)
Die zeitlich und örtlich variierenden Beanspruchungen in realen
Werkzeugen, Näpfen und Modellteilen beschränken die Möglichkeiten
zur Beurteilung des tribologischen Systems. Je nach Umformvorgang sind
an verschiedenen Stellen des Werkzeugs unterschiedliche Reibungszahlen
vorhanden [86, 92]. Um die tribologischen Eigenschaften an diesen Stellen
beurteilen zu können, werden Anlagen eingesetzt, die jeweils einen
einzelnen Ausschnitt aus dem Werkzeug abbilden [83, 84, 93].
Der tribologische Kontakt zwischen Werkzeug und Blech in einem ebenen
Ausschnitt des Werkzeugs kann simuliert werden, indem ein Werkzeug unter
Normalkraft linear [94, 95] oder rotatorisch [96, 88] über ein auf
einer festen Unterlage montiertes Blech bewegt wird. Diese Versuche mit
einseitigem Werkzeugkontakt berücksichtigen den Spannungszustand in
Blechebene nicht [94]. Streifenziehversuche, bei denen der Blechstreifen
zwischen zwei ebenen Werkzeugen hindurchgezogen wird, simulieren beidseitigen
Werkzeugkontakt [97, 86]. Hohe Beanspruchungen können zur Dehnung
des Blechwerkstoffs zwischen den Werkzeugen führen, was die Einglättung
durch Kontaktnormalspannungen deutlich verstärkt [98-, 99, 100]. Eine
Variante des Streifenziehversuchs in der Flachbahn stellt der Multi-Frottement-Test
dar, bei dem einer der beiden Werkzeugkörper durch einen quer zur
Ziehrichtung angeordneten Zylinder gebildet wird [101].
Die Zugspannungen mit überlagerten Biegespannungen durch das Ziehen
des Bleches um die Kanten von Matrize und Stempel werden mit dem Umlenkversuch
simuliert [66]. Um den im Flanschbereich eines Tiefziehwerkzeugs vorherrschenden
Zug-Druck-Spannungszustand zu berücksichtigen, lassen sich beim Umlenk-
und beim Flachbahnversuch zusätzliche seitliche Werkzeuge anbringen,
die das Blech während des Versuchs seitlich stauchen [83].
Eine hohe tribologische Beanspruchung wird mit dem Ziehsickenversuch
erreicht [102]. Die mehrfache Wechselbiegung des Bleches führt zur
Verfestigung des Werkstoffs und zu mehrfacher Beanspruchung einzelner Stellen
der Blechoberfläche.
Beim Umlenk- und beim Ziehsickenversuch sind in der Zugkraft sowohl
Anteile der Reibung als auch Anteile aus der Umformung des Bleches enthalten.
Ein übliches Verfahren zur Trennung beider Anteile besteht darin,
die zur Umformung benötigte Kraft zu berechnen und von der gemessenen
Gesamtkraft abzuziehen [66, 93]. Die Berechnung der Umformkraft ist jedoch
wegen der notwendigen starken Vereinfachungen unsicher [86]. Um die Umformkraft
genauer zu bestimmen, bieten verschiedene Anlagen die Möglichkeit,
die Versuche mit quasi reibungsfrei gelagerten Walzen durchzuführen.
Die Geometrie des Walzen-Werkzeugs führt dabei zu der gleichen Umformung
des Bleches wie das reibungsbehaftete Werkzeug. Die am reibungsfrei gelagerten
Werkzeug gemessene Zugkraft entspricht weitgehend der Umformkraft. Stehen
keine Walzenwerkzeuge zur Verfügung, kann das von Witthüser beschriebene
Zwei-Bleche-Verfahren angewendet werden [85].
Eine weitere Möglichkeit, die Reibungskraft unabhängig von
der Umformkraft zu ermitteln, wird beim für die Simulation von Streckzieh-Vorgängen
vorgesehenen modifizierten Duncan-Shabel-Test angewendet [103, 94]. In
der ursprünglichen Version werden keine Kräfte, sondern nur Dehnungen
in dem der Zarge entsprechenden Bereich gemessen. Bei niedriger Reibung
fließt mehr Material über die feststehenden Rollen, und die
gemessene Dehnung ist niedriger als bei hoher Reibung. Der reibungsfreie
Fall wird mit drehbar gelagerten Rollen simuliert. Der modifizierte Duncan-Shabel-Test
mißt zusätzlich bei feststehenden Rollen das durch die Reibung
induzierte Drehmoment. Dieses Moment entspricht der mittleren Reibungskraft
über dem Radius und enthält keine Anteile aus der Umformung.
Diese Methode ist auch beim Verschleißprüfstand am Institut
des Autors realisiert, da beim Ziehsickenversuch das Drehmoment an dem
durch eine Welle abgebildeten Sickenstab gemessen wird.
Modellversuche, bei denen die Werkzeuge wie bei diesem Prüfstand
aus mehreren hintereinander angeordneten Werkzeugausschnitten bestehen,
erfordern besondere Aufmerksamkeit, weil sich die Bereiche gegenseitig
beeinflussen. Die beim Umlenkversuch gemessenen Reibkräfte hängen
davon ab, ob das Blech unbelastet in die Rundung einläuft oder ob
die Topografie, wie in realen Ziehwerkzeugen, bereits durch flache oder
gar Sicken-Werkzeuge verändert wurde.
Das Stülpdrücken von Rohren bietet die Möglichkeit,
Reibungsuntersuchungen an einem Bauteilausschnitt unter Zug-Druck- oder
Druck-Druck-Spannungszuständen bei gleichzeitig überlagerter
Biegung durchzuführen [104]. Um die Anteile von Umformung und Reibung
zu trennen, werden sowohl das freie als auch das werkzeuggebundene Stülpdrücken
eingesetzt. Da beim freien Stülpdrücken kein Werkzeugkontakt
vorliegt, entspricht die gemessene Kraft der Umformkraft. Die Reibung im
werkzeuggebundenen Versuch kann aus der Differenz der Kräfte bei freiem
und werkzeuggebundenem Stülpdrücken ermittelt werden. Das Stülpdrücken
bietet die Möglichkeit, selbst unter komplexen und der Realität
nahekommenden Spannungszuständen im Blech die Anteile der Reibung
aus den gemessenen Kräften zu trennen. Es erfordert jedoch viel Erfahrung,
die Versuchsbedingungen so zu wählen, daß das Rohr unter den
verschiedenen Bedingungen nicht ausknickt, und daß beim freien und
gebundenen Stülpen die gleiche Bauteilgeometrie erreicht wird.
Allgemeine tribologische Modellversuche (Bild 3, Kategorie VI)
Noch weiter abstrahierte Prinzipien sind in Modellversuchen realisiert,
die nicht speziell für die Blechumformung entwickelt wurden, sondern
allgemeine tribologische Untersuchungen ermöglichen sollen. Stift-Scheibe-Tribometer
[105, 106], Kugel-Platte-Prüfsysteme [DIN 50324], Vier-Kugel-Apparate
[DIN 51350, 94, 107, 108] und die Prüfstände nach Brugger [106]
sind Beispiele dieser Prinzipien. Zur Beurteilung von Umformschmierstoffen
werden diese Anlagen vereinzelt eingesetzt, es ist jedoch bekannt, daß
die Ergebnisse nur sehr bedingt auf reale Ziehprozesse übertragbar
sind [39, 106-, 107, 108]. Die Untersuchung von Blechen unterschiedlicher
Topografien ist mit diesen Prinzipien nicht vorgesehen.